Neue Musik und neues Musiktheater in Aix-en-Provence

Grenzerfahrungen

Das Festival in Aix-en-Provence bietet nicht nur mehr oder weniger Gediegenes, sondern auch Außergewöhnliches wie ein neues Gesamtkunstwerk von William Kentridge 

Von Joachim Lange

(Aix-en-Provence im Juli 2024) Das Festival in Aix-en-Provence ist zwar keins speziell für neue Musik. Aber selbst große Uraufführungen gehören hier bislang zum guten Ton. Ob nun, wie im vorigen Jahr, im Théâtre du Jeu de Paume die Uraufführung von „Pictures a day like this“ des Briten George Benjamin, der in Aix schon 2012 mit dem großformatigen „Written on Skin“ einen Coup gelandet hatte. Oder im Jahr davor Pascal Dusapins „Il viaggio, Dante“, die Claus Guth und Kent Nagano dem Grand Théâtre de Provence auf den Leib schneiderten. Oder davor, 2021, Kaija Saariahos Opernkrimi „Innocence“, den Simon Stone inszenierte und Susanna Mälkki dirigierte. Das sind die prominentesten Beispiele, die auch eine Art Referenz-Maßstab sind. In der Beziehung fielen die metaphorischen Brötchen bzw. Baguettes in diesem Jahr deutlich kleiner aus. Vielleicht eine Auswirkung knapperer Finanzen. Was am Drumherum zu sparen ist, hat Pierre Audi schon ausgeschöpft. Immerhin reicht in diesem Jahr die LUMA Foundation im benachbarten Arles zum zweiten Mal eine helfende Hand zur Kooperation und stellt obendrein die eine Autostunde von Aix-en-Provence entfernten Räumlichkeiten.

Dafür wurde ein kammermusikalischer Doppelabend im Théâtre du Jeu de Paume die Steilvorlage für ein sängerdarstellerisches Glanzstück der besonderen Art. Zwar gab es keine vom Entstehungsdatum her nagelneue Musik, aber immer noch geradezu verschreckend radikal Grenzen touchierende Klangwelten. Sogar ohne großes Orchesterbrimborium. In einem Fall (den „Kafka Fragmenten“ von György Kurtág) sogar nur mit einer Violinistin (Patricia Kopatschinskaja) und der fabelhaften Anna Prohaska. Im anderen Fall (den acht Liedern „For a mad King“ von Peter Maxwell Davis) zwar mit einem halben Dutzend Instrumentalisten aber vor allem mit dem grandiosen Johannes Martin Kränzle. Der wagt sich so weit in den Wahnsinn, den er verkörpert, hinein, dass man sich beinahe Sorgen zu machen beginnt. Wenn er am Ende des achten Liedes wie ein Popstar auf Speed eine Geige zerdrischt, die Bühne verlässt, aber zum Beifall wohlbehalten wiederkommt, weiß man, dass er unbeschadet aus diesem Exzess hervorgegangen ist.

Maxwell Davis hatte sich Ende der Sechzigerjahre vom Schicksal des englischen Königs Georg III. (1738-1820) leiten lassen, den sein Sohn ab 1811 als Prinzregent auf dem Thron vertreten musste. Dass ein König seinen Vögeln ernsthaft das Singen beibringen wollte, war für den Thron dann doch zu viel. Vor allem wie Kränzle sich hier von Barrie Kosky animieren ließ und was der an Ausdrucks-Potenzial bei diesem Sängerdarsteller entfesselt hat, ist im doppelten Wortsinn der pure Wahnsinn! Hier treibt der Regisseur den Minimalismus der Form, den er bekanntlich auch beherrscht (siehe seine „Salome“), für ein Maximum an Wirkung auf die Spitze.

Nackt bis auf die Unterhose steht Kränzle im Lichtspott auf der leeren, schwarz ausgeschlagenen Bühne an der Rampe. Gleich nachdem Dirigent Pierre Bleuse mit den sechs Instrumentalisten des Ensemble Intercontemporain in einem regelrechten akustischen Schreckmoment den Saal geflutet hat, liefert sich Kränzle dem Wahnsinn eines Königs aus, der einmal trotzig von sich behauptet, er sei nicht krank, sondern nur nervös. Der grandiose Sängerdarsteller setzt seinen Körper, seine Stimme, die Mimik ein und dringt in Regionen exzessiven Ausdrucks vor, von denen man bislang gar nicht wusste, dass es die gibt.

Den zweiten, etwas ausufernden Teil dieser besonderen Produktion bestreiten dann Prohaska und Kopatschinskaja im Duett von Stimme und Instrument. Auch hier geht es um eine Grenzerfahrungen, die sich auf Worte von Kafka beziehen. In der Zersplitterung der Gedanken in nur knappen Sentenzen (zwischen 20 Sekunden und sieben Minuten) geht es, mehr oder weniger wörtlich, existenziell und metaphysisch ums Gehen. Allein schon in dieser Form liegt eine kafkaeske Anmutung. Natürlich bewältigt Prohaska vokal souverän bei vollem Körpereinsatz den geforderten permanenten Wechsel zwischen Lyrischem und Sprechgesang, Flüstern, Schreien oder auch Lachen, Atmen und Stöhnen. Am Ende werden ein für Festivals geeignetes Programm mit zwei Stücken herausfordernder Moderne zwei außergewöhnliche Sängerdarsteller und ein Regisseur bejubelt, der mal wieder bewiesen hat, dass er alles kann.

In Arles schließlich, im LUMA Zentrum war der Raum für eine Kreation des renommierten südafrikanischen Allroundkünstlers William Kentridge. Unter dem Titel „The Great Yes, The Great No“ zieht der alle Register seiner Art von bildender Kunst und stellt sie in den Dienst eines ambitionierten, grenzüberschreitenden Musiktheaters. Um Grenzüberschreitung geht es dabei auch ganz konkret. Verhandelt wird eine Schiffspassage von Marseille auf die Insel Martinique. Dass diese Reise 1941 stattfindet und der Kapitän Charon heißt, verweist allein schon darauf, dass es um eine Reise geht, die an den Bruchstellen des 20. Jahrhunderts entlang führt.

Eine illustre Reisegesellschaft ist hier auf der Flucht vor den Nazis: An Bord sind der Surrealist André Breton (gleich im Doppelpack), der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der kubanische Künstler Wifredo Lam, der kommunistische Romanautor Victor Serge und die Autorin Anna Seghers. Charon ruft noch andere Passiere an Bord: Aimé Césaire und seine Frau Suzanne, Jane und Paulette Nardal, die zu den Gründern der antikolonialistischen Pariser Négritude-Bewegung gehörten. Joséphine Bonaparte und Josephine Baker kommen hinzu, der eigentlich schon ermordete Trotzki, auch Stalin schaut kurz vorbei. Die fabelhaften von nur vier Instrumentalisten begleiteten bzw. angefeuerten Sänger und Performer halten sich einfach die Porträtfotos der historischen Persönlichkeiten vors Gesicht, wenn die erwähnt werden, oder in Kentridge-Manier Alltagsgegenstände. Sie befinden sich auf einer Spielfläche wie an einer Reeling, auf und vor Karten und Projektionen in Dauerbewegung. Die von Nhlanhla Mahlangu komponierten Choräle für den Chor der sieben Frauen versprühen Kraft und eine Lebendigkeit zu der die humorvollen Kommentare von Charon gut passen. In der Form wirkt das sympathisch offen, die Wirkung ist geschlossen bis zündend, der Jubel am Ende einheitlich.

(Info: Die Ruhrfestspiele sind Koproduzent von “The Great Yes, the Great No” von William Kentridge und zeigen die deutschsprachige Erstaufführung während der Ruhrfestspiele 2025. Der Vorverkauf startet Anfang März 2025.)

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