Die Musik-Biennale in Venedig

Höre deine Wunde

Die Musik-Biennale von Venedig steht in diesem Jahr unter dem Motto „Absolute Music“ – es ist die letzte Ausgabe des Festivals unter der Leitung von Lucia Ronchetti

Von Robert Jungwirth

(Venedig, Ende September 2024) Es ist eine schorfige, schrundige Musik, die Rebecca Saunders in ihrem Orchesterstück „Wound“ 2023 komponiert hat. Tatsächlich hört sie sich ein wenig so an, wie wenn man die Narben eines Menschen betrachtet. Mit solch assoziativen, ja haptischen Klängen arbeitet die Musik von Saunders. Man mag an Joseph Beuys‘ Installation„Zeige deine Wunde“ denken. Saunders hat mit „Wound“ eine Art musikalisches Pendant dazu geschaffen. Als italienische Erstaufführung präsentierte das Ensemble Modern zusammen mit Musikern des Teatro La Fenice unter der inspirierten Leitung von Tito Ceccherini das etwa 40-minütige Orchesterwerk aus dem Jahr 2022 im Eröffnungskonzert der diesjährigen Musik-Biennale von Venedig im ehrwürdigen Teatro La Fenice.

Man kann nicht sagen, dass „Wound“ keine Programmmusik ist. Aber es es ist auch keine Programmmusik im herkömmlichen Sinn. Saunders arbeitet sich nicht an einem bestimmten vorgegebenen Programm ab. Die Musik bleibt abstrakt, evoziert lediglich Assoziationen, die bei jedem Hörer anders ausfallen. Also doch eher absolute Musik? Eigentlich denkt heute in der zeitgenössischen Musik niemand mehr in solchen Kategorien, die eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sind. Trotzdem hat die Leiterin der Musik-Biennale von Venedig Lucia Ronchetti die „Absolute Musik“ zum Motto ihrer vierten und letzten Festival-Ausgabe erkoren. Dabei geht ihr jedoch weniger darum, Diskussionen des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben, als vielmehr um ein Nachdenken über Musik, über ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Autonomie. Um Musik an sich, selbstreferentielle Musik, die nicht auf etwas verweist oder von etwas Konkretem inspiriert ist. Musik als eine autonome Sprache der Kunst, die aus sich selbst heraus einen künstlerischen Ausdruck manifestiert.

Lucia Ronchetti hat in ihren vier Biennalen stets auch ein Faible für musikphilosophische Fragestellungen bewiesen – und dazu wortreiche und kluge Kataloge erarbeitet. So auch diesmal – 570 Seiten umfasst das Programmbuch 2024.

Gekoppelt werden sollte „Wound“ beim Eröffnungskonzert mit Unsuk Chins Konzert für Violine und Orchester mit dem Titel „Scherben der Stille“, das aber wegen Erkrankung des Solisten Leonidas Kavakos durch „Puzzles and Games“ aus Unsuk Chins Oper „Alice in Wonderland“ ersetzt wurde – was natürlich absolut keine absolute Musik war, aber egal. Die Sopranistin Siobhan Stagg hat die für die Konzertsuite zusammengefassten Passagen aus der Oper mit wunderbarer Spiel- und Singfreude interpretiert, Tito Ceccherini am Pult war ihr ein kompetenter Begleiter.

Tags darauf erhielt Rebecca Saunders den Goldenen Löwen der Biennale für ihr „Lebenswerk“. Bei einer 57-jährigen Komponistin ist die Formulierung „Lebenswerk“ vielleicht nicht so ganz passend (Bruckner hat z.B. erst mit 40 angefangen Symphonien zu komponieren…)

Ohne Frage zählt Saunders zu den herausragenden Vertreterinnen der zeitgenössischen Musik, vor ein paar Jahren hat sie bereits den Siemens Musikpreis erhalten. Der Goldene Löwe wurde ihr für ihre Fähigkeit verliehen, instrumentale Klänge zu erforschen sowie für die intime und hermetische Poesie ihrer akustischen Architekturen. Wörtlich heißt es: “Rebecca Saunders wird für ihre Fähigkeit gewürdigt, im Hörer einen privaten Hörraum zu schaffen, einen intimen und inneren akustischen Raum, der das klangliche Imaginäre entwickelt und erweitert. Ihre Erarbeitung von Klangmaterial ist zugleich zutiefst spekulativ und stark empirisch und materiell verbunden mit der Ausführung und der Erforschung innovativer Aufführungsstrategien.”

Die Preisträgerin hob in ihrer emotionalen Dankesrede die Bedeutung der Freiheit der Kunst für unsere Zeit hervor. „Jede Generation muss den Kampf für die Meinungsfreiheit und für die Autonomie der Kunst erneuern, für eine Kunst, die frei von Dogmen, frei von politischer Kontrolle ist. Kunst, die die zeitgenössische Gesellschaft beobachtet, kritisiert und reflektiert, die die Komplexität unserer emotionalen und spirituellen Welt zum Ausdruck bringt. Die Gesellschaft braucht die Kunst. Wir brauchen die Kunst, so wie ein Körper seine Lungen braucht, um zu atmen, und sein Herz, um das Blut durch seine Adern zu pumpen.“

Den Silbernen Löwen erhielt in diesem Jahr das deutsche Ensemble Modern. Ausgezeichnet wird es für seine Neugier, Energie, Innovation, Virtuosität und die Leidenschaft, mit der es sich jedem neuen Projekt widmet – und das seit 44 Jahren. „Im Gegensatz zu anderen Ensembles, die sich der neuen Musik verschrieben haben, verfügt das Ensemble Modern über eine demokratische Organisationsstruktur, die es allen Ensemblemitgliedern ermöglicht, neue Produktionen und Aufführungen gemeinsam zu diskutieren und auszuwählen, was ihre Interpretationen leidenschaftlich und präzise macht.“

In den ersten Festivaltagen konnte man ein weiteres Orchesterstück von Saunders bei der Biennale hören, ihr 2023 entstandenes Stück „Skull“, zu deutsch „Schädel“ . Gespielt wiederum vom Ensemble Modern, diesmal unter Bas Wiegers. Eine etwa 30-minütige Glissando-Studie von allerdings eher beschränkter Faszinationskraft. Auch am Ende erschließt sich dem Hörer keine inhärente dramaturgische Idee – ein wenig enttäuschend.

Sehr viel lohnender war da das Klavierrezital von Bertrand Chamayou mit George Benjamins sechs Preludes „Shadowlines“ von 2001 und den sechs Etüden von Unsuk Chin aus den Jahren 1995-2003. Benjamins Klavierstücke sind tieflotende, expressive Seelenforschungen, faszinierend gespielt von Chamayou. Und auch Unsuk Chins Etüden sind wahre Kleinode virtuoser zeitgenössischer Musik, die man freilich kaum jemals bei einem „normalen“ Klavierabend zu hören bekommt. Warum eigentlich nicht? Es würde sich entschieden lohnen.

Was die Intendanz von Lucia Ronchetti auszeichnet ist auch ihr geweiteter Blick über Europa hinaus. So sind in diesem Jahr auch wieder Komponistinnen und Komponisten aus Asien, Südamerika oder aus arabischen Ländern zu hören. Im historischen Saal der Bibliotheca Marciana vis-a-vis San Marco begeisterte die aus Iran stammende Golfam Khayam mit Gitarrenkompositionen solo, die eine Brücke schlagen zwischen der traditionellen Musik ihrer Heimat und westlichen Elementen.

Herausfordernd selbst für eingefleischte Neue-Musik-Fans dürfte Gérard Griseys Perkussionsstück „Le Noir de L’etoile“ gewesen sein für sechs im Raum verteilte Perkussionisten. Ein heftiges und auch ein wenig anstrengendes Stück, das von astronomischen Vorgängen inspirierte ist, also eigentlich auch nicht wirklich absolute Musik. Grisey, der als sogenannter Spektralist vor allem für vielfach gebrochene Orchesterklänge bekannt ist, beschränkt sich hier auf wuchtige, basale Perkussions-Akzente, die im Raum kreisen – das Publikum im Teatro alle Tese des Arsenale hatte in der Mitte der Schlagzeug-Batterien Platz genommen. Auch wenn die Aufführung durch das Ensemble This-Ensemble That konzentriert und beeindruckend geriet, blieb die rein musikalische Aussage eher begrenzt.

Zu den sehr gelungenen Programmpunkten gehört in diesem Jahr ein installatives Konzert, das auf dem Gelände des Arsenale (neben der Kunst-Biennale) einen ganzen Tag lang eine Abfolge von 12 Kompositionen von 12 Komponistinnen und Komponisten für Mehrkanal-Tonsysteme aus etwa 20 Lautsprechern bietet – täglich bis zum 11. Oktober hörbar. Darunter so faszinierende Stücke wie John Zorns furiose Orgelphantasie „The hermetic organ“ von 2024 oder die „Travelling Voices“ von Christina Kubisch ebenfalls von 2024, die eine musikalisch Brücke zur Raumklang-Musik eines Claudio Monteverdi in San Marco schlägt.

Bis zum 11. Oktober stehen bei der Biennale noch zahlreiche Ur- und Erstaufführungen auf dem Programm.

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