Der Idiot von Weinberg in einer sensationellen Produktion bei den Salzburger Festspielen

Der Mann mit dem Röntgenblick

Mirga Grazinyte-Tyla dirigiert eine phänomenale Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs Oper „Der Idiot“ nach Dostojewski bei den Salzburger Festspielen

Von Robert Jungwirth

(Salzburg, 2. August 2024) Was verbindet Liebe und Mitleid miteinander? Ist Mitleid Teil der Liebe oder gar konstitutiv für sie? Oder ist es eher umgekehrt, schließt Mitleid Liebe aus? So jedenfalls scheint es beim Fürsten Myschkin zu sein, jener ominösen Hauptfigur in Dostojewskis umfangreichen Roman „Der Idiot“. Im Kern geht es um eine Dreiecks-, nein Vierecksgeschichte zwischem Myschkin, der von ihm angehimmelten Nastassja, in die auch Rogoschin verliebt ist, und Aglaja, die wiederum Myschkin liebt – die natürlich tragisch endet. Im Zentrum steht Myschkin, der „Idiot“, der mit seiner Ehrlichkeit alle fast zum Wahnsinn treibt. So ist das, wenn einer die Wahrheit sagt. Das bringt die Umstehenden gehörig durcheinander. Denn unsere Welt, unsere menschliche Gesellschaft ist nicht auf Wahrheit, sondern auf Illusionen gegründet. Man kann auch sagen Lügen. Das reicht vom Privaten über die Wirtschaft bis zur Weltpolitik, die von Lügen lebt, wie wir es in dieser Zeit tagtäglich erleben müssen.

Deshalb übt Myschkin eine solche Faszinationskraft aus, weil er anders ist, das Spiel um Lug und Trug nicht mitspielt, sondern quasi mit dem Röntgenblick hinter die Fassaden blickt. Nastassja Verliebt sich in ihn, weil er anders ist als die Männer, die sie sonst so kennt. Er blickt ihr in die Seele. Das hat bislang noch keiner getan. Die anderen Männer blicken woanders hin. Und Myschkin verliebt sich in diesen gefallenen Engel, bis er erkennt, dass Mitgefühl eben doch keine Liebe ist. Aber da ist es schon zu spät, da hat das Verhängnis mit dem Nebenbuhler und vermeintlichen Freund Rogoschin schon volle Fahrt aufgenommen – bis zum letalen Ende.

Keine leichte Aufgabe, aus dem rund 1000 Seiten-Roman ein Opernlibretto zu basteln. Alexander Medwedew ist dies auf bewundernswerte Art gelungen. Allerdings muss man sich als Zuschauer einlassen auf die langsame Gangart der Handlung in dieser Oper. Es braucht Zeit bis Myschkin erstmal mit dem Zug in Petersburg ankommt, Rogoschin trifft, dann Nastassja, dann ihre Familie und und und. Über das allmähliche Verfertigen einer Opernhandlung beim Schildern von Beiläufigkeiten und Nebensächlichkeiten – so könnte man umbeschreiben, was in der ersten Stunde in der Oper passiert. Aber wenn man sich dem langsamen Fluss der Handlung einmal überlassen hat, entdeckt man die Details. Und die stecken in der Psychologie der Figuren und vor allem in der Musik von Weinberg, die diese Psychologie seismographisch nachzeichnet. Auch er, der als polnischer Jude dem Holocaust entkam und dann unter beständiger Angst in der UdSSR lebte, war ein Außenseiter wie Myschkin, und einer, der genau hinsah in die Seele der Menschen.

Es ist ein faszinierendes Musikdrama oder soll man besser sagen ein musikalisches Drama, das Weinberg in seiner letzten, Ende der 80er Jahre entstandenen Oper „Der Idiot“ geschaffen hat. Die Musik packt den Zuhörer vom ersten bis zum letzten Ton, dabei ist sie nicht daueraufgeregt, sondern wohldosiert in ihren emotionalen Eruptionen und psychologischen Erschütterungen. Und wie grandios die junge, aber schon überaus erfahrene und erfolgreiche Litauerin Mirga Grazinyte-Tyla das zusammen mit den Wiener Philharmonikern umsetzt, ist einfach umwerfend. Dass sich Grazinyte-Tyla viel mit Weinbergs Musik beschäftigt hat, spürt man in jeder Phrase, jedem Takt. Sein an Schostakowitsch geschulter, aber doch eigenständiger Tonfall ist ihr bis in die kleinsten melodisch-harmonischen Verästelungen vertraut. Ihre punktgenaue, energetische Zeichengebung sorgt für nicht nachlassende Spannung und musikdramatische Intensität. Das überträgt sich in dieser phänomenalen Aufführung auf jeden Musiker, auf jede Sängerin.

Alles klingt wie aus einem Guss, wie mit einem Atem gesungen und gespielt – eine großartige Leistungen aller Beteiligten. Allen voran der Myschkin des Bogdan Volkov. Er ist beinahe in jeder Szene der dreieinhalbstündigen Oper präsent. Allein das ist schon eine Leistung. Und dann ist die Partie auch noch höchst anstrengend zu singen. Wie Volkov das bewältigt mit einem für die Rolle idealen, so angenehm weich klingenden Tenor, der so sanftmütig wirkt, wie geschaffen für diesen Myschkin, ist ein Ereignis. Und dann spielt Volkov auch noch hinreißend in der packenden Regie von Krzysztof Warlikowksi – bishin zum vorgeschriebenen epileptischen Anfall. Zunächst wirkt er in Aussehen und Art wie ein Bruder von Rain Man in seiner grauen Jacke und der autistischen Art. Doch öffnet er sich mehr und mehr den Menschen und gewinnt dadurch Kontur.

Nastassja ist anfangs die kratzbürstige Zicke, die in der Begegnung mit dem „Idioten“ dann aber wachsweich wird. Ausrine Stundyte singt sie mit leidenschaftlicher Stimmgebung. Vladislav Sulimsky als Rigoschin singt und spielt kernig, kräftig, mitunter auch beängstigend. Phänomenal auch Xenia Puskarz Thomas als die andere Geliebte Myschkins Aglaja mit emotional flackerdem, dabei anrührendem Sopran. Auch alle weiteren Rollen sind fantastisch besetzt, sie aufzuzählen würde den Rahmen sprechen, stellvertretend sei noch der wunderbare Pavol Breslik als Ganja erwähnt.

Malgorzata Szczesniak hat Warlikowski ein Riesenbühnenbild auf die Riesenbühne der Felsenreitschule gestellt, die an einen Warteraum in einem ZK-Gebäude der früheren Sowjetunion erinnert. Dabei ist dieser Raum sehr wandelbar, mal Zugabteil, mal Schlafzimmer. Immer wieder tun sich Räume im Raum auf oder werden Videoeinblendungen an den Furnierholz-Rückwänden sichtbar.

Am Anfang, wenn die Handlung so träge in Gang kommt, wirkt der Riesenraum ebenfalls etwas ermüdend, ja langweilig. Aber im Lauf der Zeit registriert man seine Qualitäten und Vorzüge. Und Warlikowski verlegt sich auf eine zurückhaltend genaue Regie, die dem Erzählfluss der Handlung entspricht ohne ihn überzuakzentuieren oder zu überzeichnen. Das ist sehr wohltuend, zumal die Zuspitzungen der Handlung, die Höhepunkte im tragischen Verlauf dieser Amour fou dadurch umso stärker zur Geltung kommen. Verdienter stürmischer und lang anhaltender Jubel des Publikums für eine herausragende Aufführung, die ohne Zweifel in die Festspielgeschichte eingehen wird.

Am 23.8. ist die Inszenierung auf medici.tv und Stage+ zu sehen.

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert