Expedition ins Tierreich

Das Deutsche Nationaltheater Weimar startet mit einer szenisch besonderen und musikalisch fulminanten Salome in die neue Spielzeit

Von Roberto Becker

(Weimar, 14. September 2024) Mit der aktuellen Spielzeiteröffnung in Weimar haben die Thüringer Opernfreunde gleich zwei Varianten des Richard Strauss Dauerbrenners „Salome“ im Angebot. Der Vergleich lohnt sich, weil es zwei gänzlich verschiedene Zugänge sind. In Meiningen legte Verena Stoiber vor – jetzt zog Friederike Blum am Deutschen Nationaltheater nach. Wahrscheinlich ist es mehr Planungszufall, aber in beiden Fällen sind es weibliche Inszenierungsteams, die sich diese Frauenoper der besonderen, man könnte auch sagen besonders finsteren Art vorgenommen haben.

Interessant ist hier aber weniger eine womöglich feministische Sicht (die freilich nicht von vornherein etwas mit dem Geschlecht der Teammitglieder zu tun haben muss), sondern der prinzipielle Blick auf die Opernvariante der biblischen Episode. Es sind zwei grundsätzlich verschiedene szenische Zugänge zu einer Oper, die allein schon mit der Poesie ihres Textes, vor allem aber mit der Wucht der Musik von Richard Strauss ihre Wirkung entfaltet. Verena Stoiber folgte auf originelle Art der heutzutage dominierenden Projektion der Geschichte in eine ungefähre, chaotische Gegenwart. Mit Fastfoodtafel und live gedrehten Nahaufnahmen, Boxring und ein paar Eingriffen in die Handlung.

Das macht ihre Kollegin in Weimar alles nicht. Weder die Gegenwart noch irgendwelche ihrer optischen Versatzstücke spielen hier eine Rolle. Noch wird die Handlung etwa mit Diagnose- oder Therapieambitionen in Bezug auf die außer Kontrolle geratene junge Prinzessin überschrieben. Hier wird die Geschichte nicht in die Realität und Gegenwart fortgeschrieben, sondern sie bleibt bei sich und projiziert die Obsessionen der handelnden Personen in ein Reich der Fantasie.

Offenkundig wird das besonders beim Schleiertanz, mit dem Salome der Aufforderung des Herodes nachkommt, für ihn zu tanzen. Die Motive für diesen Tanz sind auf Seiten Herodes‘ eine Grenzüberschreitung seiner sexuellen Gelüste, auf Seiten Salomes ihrerseits eine von solchem Ausmaß, dass die den Propheten und am Ende sie selbst das Leben kostet. Als Preis für eine absurde Art von Lustbefriedigung. Das war, ist und bleibt ein Skandalstück. Und man fragt sich, wie das vor knapp 120 Jahren überhaupt auf die Bühne gelangen konnte.

In Weimar ist es so, dass Salomes Tanz mehr ein Anheizen der Begehrlichkeiten des Herodes, ihrer Mutter, der Juden und aller anderen ist. Sie wendet sich jedem einzelnen zu mit einem ganzen Repertoire von Andeutungen sexueller Rollenspiele. Wer eine Art Striptease mit Musik zur erotisch auftrumpfenden und sich packend steigernden Musik erwartete, mag enttäuscht gewesen sein. Wer freilich nicht nur in diese grandiose Musiknummer hineinhörte, sondern auch bis auf den Grund der glotzenden und sich aufputschenden Männergesellschaft zu schauen versuchte, der konnte auch diesen Tanz (bei dem Vendula Novakova der Regisseurin choreografisch zur Seite stand) im besonderen Ambiente, das die Bühne von Heike Vollmer und die Kostüme von Lauren Steel boten, als Höhepunkt verbuchen.

Der nach oben ansteigende und sich nach hinten zu verjüngende Einheitsbühnenraum ist von zwei hohen Mauern begrenzt, der Boden mit schwarzen Tücher bedeckt. Auch in der Höhe wallen dunkle Schleier wie drohende Wolken. Erwartungsgemäß stürzt dieser Himmel am Ende natürlich ein. Ein Zugang im Hintergrund gibt etwas Licht ins Dunkel in diesen imaginären Palasthof im Müllhaldenlook. Mit der Zisterne für den Propheten unsichtbar mittendrin.

Für die Protagonisten ist die Bewegung auf der Schräge eine Herausforderung – für die Zuschauer ist die Wirkung unglaublich suggestiv. Das Gewagteste an dieser Inszenierung ist freilich die opulente Kostümierung der Akteure, deren so oder so verkorkste menschliche Natur in tierischer Verkleidung zu einer Art eigentlicher Wahrheit findet. Das lässt sich im Detail mehr oder weniger schlüssig enträtseln, funktioniert aber auch da, wo es nicht so offensichtlich ist, wie bei der Schlangengestalt der Salome, den Maulwurfsaugen von Herodes, den Adlerschwingen von Herodias, den weißen Kostümen des Cappadociers und des Sklaven, die aufs Stichwort wie die Weißen Pfauen von denen Herodes redet mit ihren Frackschwänzen ein Pfauenrad schlagen. Dass den Kopf des Jochanaan das Geweih eines Opfertieres ziert, liegt auf der Hand bzw. dann auf der Silberschüssel. Warum die fünf Juden als Löwe-, Fledermaus-,Hase-, Huhn-, Schaf- oder Elefant ausstaffiert sind, bleibt freilich ebenso ein Geheimnis, wie ausgerechnet die Ausstaffierung des vom Pagen angehimmelten und selbst die Prinzessin liebenden Narraboth als Hyäne. Doch auch mit diesem Quantum Willkür funktioniert die Inszenierung und bleibt der Vorlage auf den Fersen.

Das Premierenpublikum ließ sich darauf ein. Wobei die ungewöhnliche Szenerie auf dem sicheren Orchesterfundament stand, für das Musikdirektor Dominik Beykirch und die fabelhafte Staatskapelle Weimar im Graben sorgten. Hinzu kam der Rückenwind von einem großartigen Protagonisten-Ensemble.

Das beginnt bei der jugendlich wirkenden, darstellerisch intensiven und vokal fulminant auftrumpfenden Tamara Banješević in der Titelpartie. Das geht weiter mit Alexander Günther als agilem und höchst eloquentem Herodes und der charismatischen Christel Loetzsch als ungewöhnlich junger Herodias. Das schließt aber auch Taejun Sun als erstklassigen Narraboth und Sayaka Shigeshima als Pagen ein. Natürlich ist auch der mittlerweile an die Semperoper gewechselte Oleksandr Pushniak ein grandios auftrumpfender Jochanaan. Auch das Quintett Juden hält wacker mit.

Die Weimarer „Salome“ ist in gewisser Hinsicht ein ästhetisches Gegenmodell zur gängigen Interpretationspraxis, das man so oder so sehen kann. Musikalisch ist sie unstrittig ein Schmuckstück!

0 Kommentare

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert