Musik-Festival auf der Insel Lesbos

Klassische Musik mit Zikaden-Begleitung

Das Internationale Musik Festival auf der Insel Lesbos

Von Georg Rudiger

(Lesbos im August 2023) Die Blätter rauschen im Wind. Eine Fledermaus jagt zwischen den Bäumen umher. Man sitzt auf Plastikstühlen in einem Olivenhain mit Blick auf die genuesische Krimasti-Brücke aus dem 14. Jahrhundert. Plötzlich tauchen fünf Reiter auf, umkreisen mit ihren Pferden das Publikum und stellen sich vor der Bühne in einer Linie auf. Das mittlere scharrt mit dem Huf und senkt den Kopf – das 9. Molyvos International Music Festival auf der Insel Lesbos ist eröffnet. Statt einem roten Teppich gibt es beim Opening Act ein paar Pferdeäpfel auf dem Festivalgelände. Der Strom für die Klangverstärkung und die Illumination kommt vom Generator. Hier hört man kein Klirren von Champagnergläsern, sondern die Glöckchen einer Schafherde. Und hochkarätige Musik in einer außergewöhnlichen Umgebung. Open-Air nicht als massentaugliches Klassikevent, sondern als echtes Erlebnis!

Das junge griechische Brüderpaar Stavros und Evripides Samaras spielt sich bei den acht Stücken für Violine und Cello op. 39 von Reinhold Glière die Bälle zu. Und gefällt auch bei den Solowerken wie Ysaÿes Violinsonate und Bachs vierter Cellosuite mit feiner Technik und schöner klanglicher Differenzierung. Nur für dieses eine, gut einstündige Vorkonzert wurde die Bühne mitten in der Natur aufgebaut. Für das zweite am Folgeabend hat man sogar einen Flügel auf die Burg der Inselhauptstadt Mytilene gewuchtet. Die Sturmböen pfeifen in den Zinnen, aber nicht in den Lautsprecherboxen. Kaspar Wollheim, frisch pensionierter Toningenieur vom RBB, sorgt mit den gesponserten, windgeschützten Schoeps-Mikrofonen für erstklassigen Sound. Claude Debussys Cellosonate erklingt fein austariert, mit geschmackvoll dosiertem Hall ohne jedes Nebengeräusch. Kiveli Dörken sitzt barfuß am Klavier, weil ihre Konzertschuhe voller Steinchen sind. Zum Abschluss kommt ihre vier Jahre ältere Schwester Danae neben sie, um unter dem Sternenhimmel fünf Ungarische Tänze von Johannes Brahms mit viel Temperament, aber auch intensiv ausgekosteten lyrischen Momenten zu interpretieren.

„Symbiosis“ ist das Motto des diesjährigen Festivals. Es geht um die Symbiose zwischen Mensch und Natur, um die Gefährdung der Lebensgrundlagen und die Sehnsucht nach Harmonie. Das Klassikfestival haben Danae und Kiveli Dörken gemeinsam mit ihrer Mutter Lito Dakou im Jahr 2015 in Molyvos gegründet. Hier, wo ihre Großmutter lebte, verbrachten die deutsch-griechischen Schwestern in ihrer Kindheit jeden Sommer. Die klassische Musik entdeckten die ehemaligen Studentinnen der Klavierprofessoren Karl-Heinz Kämmerling und Lars Vogt in Deutschland. Im Molyvos International Music Festival vereinen sie beide Welten. Und bringen mit viel Aufwand und Leidenschaft jeden Sommer klassische Musik in höchster Qualität auf die drittgrößte griechische Insel und führen zusätzlich Vermittlungsprogramme an Schulen durch. Klassische Musik hat man bis dahin auf Lesbos kaum gekannt. Das Festival – ein echtes Abenteuer.

Die meisten Konzerte sind kostenlos – der Kartenhöchstpreis für eines der vier Hauptkonzerte liegt bei 30 Euro. „Molyvos Musical Moments“ heißen die kurzen Pop-Up-Konzerte, die jeden Tag an einem anderen Ort stattfinden – vom Hotelpool bis zum Strand. Damit erreicht man auch die, die nicht zum Festival kommen können und erhöht die Sichtbarkeit. Danach geht es mit den Künstlern und Stammgästen zum Lunch in eines der zahlreichen Restaurants. Die starke Einbindung der Ortsbevölkerung war von Beginn Teil des Konzepts. Auch die Reiter des Opening Acts stammen vom nächsten Dorf. „Das Festival ist für uns eine echte Herzensangelegenheit“, sagt Danae Dörken. Die Künstlerinnen und Künstler kommen gerne zu diesem außergewöhnlichen Festival, das nah an den Menschen ist und viel Gemeinschaft stiftet. „Sie zeigen sich hier von ihrer offensten Seite“, bemerkt ihre Schwester Kiveli. „Und lassen sich ein auf die zum Teil wenig bekannten, dramaturgisch eng miteinander verknüpften Werke.“

Beim mit „Alienation“ (Entfremdung) betitelten Eröffnungskonzert trifft David Orlowskys „Lyra“ für Klarinette und Streichquartett auf „Kaddisch“ aus den „Deux mélodies hébraïques“ von Maurice Ravel, dem Danae Kontora mit ihrem schlackenlosen Koloratursopran Eindringlichkeit verleiht. Auch ein Repertoirestück wie Franz Schuberts Streichquintett wird, exzellent geführt von Antje Weithaas an der ersten Violine, zu einem tief bewegenden Wechselspiel zwischen Idylle und Abgrund. Weil die neue Bühne für die Burg in Molyvos, wo das Festival die ersten Jahre stattfand, immer noch nicht genehmigt ist, hat man einen ausgedienten Tennisplatz im Park des Hotels Delfinia in einen stimmungsvollen Konzertort verwandelt. Das Zirpen der Zikaden mischt sich mit der Meeresbrandung und, je nach Windstand, auch dem leisen Brummen des Generators zu einer echten Symbiose. Aufmerksam lauscht das Publikum auch der Uraufführung von „Endogenesis – Ontogenesis“ und „The Flight of the Eagle“ von Dimitris Papadimitriou. Dass in den Konzerten zwischen den Sätzen geklatscht wird, stört hier niemanden.

Beim Kinderkonzert sind auch Flüchtlingskinder dabei und dürfen danach die Violinen von Noé Inui und Tobias Feldmann, die Klarinette von Dawid Orlowsky und den Flügel ausprobieren. Danae Kontora zeigt Gesangsübungen. Das allererste Festival im Sommer 2015 fiel zusammen mit der Flüchtlingskrise, 2016 brach der Tourismus auf der Insel gegenüber dem Vorjahr um 80 Prozent ein. Kiveli und Danae Dörken engagierten sich auch auf diesem Gebiet, sorgten mit ihrem Team für die Erstversorgung und spielten sogar einmal in einem Flüchtlingscamp. Inzwischen ist man auf der ganz nah an der Türkei liegenden Insel bezüglich Übernachtungszahlen schon wieder auf dem guten Vorcorona-Niveau von 2019 – einige Touristen kommen auch extra wegen des Festivals auf die geschichtsträchtige Insel.

Treffen mit Lito Dakou im idyllischen Ortskern. Gerade hat Kirill Troussov noch mitten in der Basargasse in Badelatschen Niccolo Paganinis 24. Caprice spektakulär zelebriert. Die temperamentvolle, umtriebige Mutter der beiden Schwestern kennt jeder im Dorf. Das Budget von 270 000 Euro für das Festival muss die studierte Volkswirtin jedes Jahr neu auftreiben. Die Ticketpreise finanzieren nur rund 5 Prozent davon. 40 Prozent sind öffentliche Gelder, der Rest ist Sponsoring. Eigentlich läge das Budget deutlich höher, aber sie selbst, ihre Töchter und der Toningenieur Kaspar Wollheim arbeiten neben den vielen Helferinnen und Helfern ehrenamtlich. Der große Yamaha CFX Flügel und der Klavierstimmer Hans Gittelbauer werden von der Klavierfirma gesponsort. Nur der aufwändige Transport von Athen mit der Fähre und vor Ort muss vom Festival übernommen werden. Für die Zukunft wünscht sie sich eine gesicherte Finanzierung und die Rückkehr des Festivals auf die Burg. „Wir sind hier am Rande von Europa und repräsentieren mit unserem Festival europäische Kultur.“

Das Abschlusskonzert trägt den Titel „Harmonia“. Vor John Cages Werk „4.33“, in dem die Musik schweigt, erklären Kiveli und Danae Dörken auf Griechisch und Englisch dem Publikum, dass es auf die Laute der Natur hören soll. Alle 12 Festivalkünstler kommen nochmals auf die Bühne und verharren mit erhobenem Blick. Ein starker Moment, ehe Ludwig van Beethovens „Pastorale“ in einer Streichsextettversion erklingt. Den vierten Satz „Sturm“ rocken Isang Enders und Benedict Klöckner an den Celli mit rasenden Läufen und krachenden Bögen. Musik als Naturereignis! Und wenn im Finale die sechs vorzüglichen Streicher zum innigen, kantablen Gesang zurückfinden, dann entsteht zumindest musikalisch die Hoffnung, dass Mensch und Natur vielleicht doch im Einklang leben können.

10. Molyvos International Festival: 16.-19. August 2024. Aktuelles Album: Danae und Kiveli Dörken (Klavier), Apollo & Dionysus, Werke von u.a. Maurice Ravel, Philip Glass und Johannes Brahms, Berlin Classics.

1 Antwort
  1. Henning Stein
    Henning Stein sagte:

    Molyvos International Music Festival: Ein wunderbares Festival für alle Sinne. Ich war 2022 und 2023 dort und werde sicher 2024 wieder da sein. Der Bericht von Georg Rudiger beschreibt die Stimmung ausgezeichnet. Vielen Dank!

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